Montag, 16. Juli 2018

Schluß mit Lustig - den Blick auf die WM in Russland ins rechte Licht gerückt

 So, das war's dann. Fast hätte sich die heimische Presse selbst vergessen in ihrer Lobhudelei über das russische Sommermärchen, die freundlichen, weltoffenen Menschen, die freundlichen Polizisten, ja, selbst der Belag der Straßen war glatt und gut befahrbar, die Organisation reibungslos und von den gefürchteten Hooligans weit und breit nichts zu sehen.

 Dem Tagesspiegel war es nun genug. Irgendwann mußte Schluss sein mit der Lobhudelei. Schliesslich waren die deutschen Kicker schon über vierzehn Tage zu Hause und bei der Berichterstattung sollte langsam der Alltag wieder Einzug halten. Zurück zum: Westen guttt - Russland schleeecht!

 Nur was tun? Einige Kollegen hatten versucht in die fehlende Präsenz Putins während der WM-Spiele irgendeine Schurkerei hineinzuphantasieren, andere hatten sich über die Verlängerung des Renteneitrittalters und die Mehrwertsteuererhöhung echauffiert - aber nichts wollte so richtig zünden. Die Menschen interessiert herzlich wenig womit der Russische Präsident seine Zeit verbringt während die halbe Welt vor der Glotze sitzt und Fußball guckt und über ein Renteneintrittsalter von 65 Jahren bei den Männern und 63 Jahren bei Frauen kann man Hierzulande nur neidvoll lächeln. Arbeitet man hier doch bald bis zum siebenundsechzigsten Lebensjahr und die Meinungsmacher bereiten bereits eine Verlängerungder Lebensarbeitszeit bis zum erreichen des siebzigsten Lebensjahres vor. Und das alles bei einer wesentlich höheren Produktivität, heißt: Die Menschen hier schaffen während ihres Arbeitslebens wesentlich mehr Werte, die aber nicht ihnen zu Gute kommen, sondern in den weltweiten Casinos der Finanzjongleure versickern.

 Andreas Bock hat die Aufgabe übernommen uns nun wieder Russland zu zeigen, wie wir es von unseren Medien her kennen. Als Beispiel hat er sich das Fifa-Fanfest auf dem Campus der Lomonossow-Universität ausgesucht:
"Als die Musik einsetzt, massiert der Bass den Boden, der Beton vibriert, noch drei Kilometer entfernt, an der Metrostation Kiewskaja hört man die Beats, die an Ausschussware aus DJ Bobos Frühwerk erinnern."
Wir erkennen sofort, dass wir uns im ach so rückständigen Russland befinden. Die Musik ist "Ausschussware aus DJ Bobos Frühwerk". Allerdings ist Bock sich noch nicht ganz sicher, was den Sound betrifft. Während in einem Satz behauptet, dass der Bass den Boden "massiert" sodass "der Beton vibriert" und "noch drei Kilometer entfernt, an der Metrostation Kiewskaja hört man die Beats", verkehrt sich dieses Lärmspektakel im nächsten Satz in sein direktes Gegenteil um:
"Der Sound ist blechern. Es klingt, als versuche jemand, die Tonsignale durch ein überdimensionales Dosentelefon zu verstärken."
 So ist das, wenn man es zu gut meint. Bock möchte seinen Brötchengeber gefallen und das Public Viewing in Moskau so richtig schön verreissen und verheddert sich dabei in seinen eigenen Fallstricken. Aber wie in der Mathematik zeitigt auch hier eine doppelte Verneinung ein positives Ergebnis - in diesem Fall für die aufmerksame Leserschaft, die zu der Erkenntnis kommt, dass Bock in einem als Bericht getarntem Meinungsbeitrag nichts weiteres im Sinn hat, als sie, die Leserschaft zu vergackeiern.

 Wenn die Musik schon so über alle Massen schlecht ist, sollte auch das Publikum ausschliesslich aus dämlichen, oberfläcchlichen Ignoranten bestehen:
"Ein Top-DJ aus Russland sei der Mann auf der Bühne, sagt ein Fan im Trikot der Sbornaja. Einer, der richtig Stimmung macht. Ach ja, später zeigen sie noch das Eröffnungsspiel Russland gegen diese Mannschaft aus Arabien. Saudi-Arabien? Genau! Kannst du ein Foto von uns machen?"
 Da kann der westeuropäische Edelfußballfan natürlich nur seine Nase rümpfen:
"Fifa-Fanfeste sind im Grunde wie RTL2. Übertrieben laut, übertrieben grell, übertrieben krawallig. Eigentlich ist das alles kein Problem, man muss ja nicht einschalten, und man muss auch nicht hingehen."
 Angesichts des obigen Geschwurbels kommt allerdings der Verdacht auf, dass Bock selbst ein-, bis zweimal zuviel an Lieschen Mohns Prollkanal geschnuppert hat. Vieles deutet darauf hin, dass der Mann nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, als er den Text verfasst hat. So sind die blechern klingenden, wie einem Dosentelefon entstammenden aber auch widerum den Boden massierenden Bässe, nicht das einzige Paradoxon in Bocks Beitrag. So berichtet er von einem gewissen Alexander Bikow.
"Er ist Kopf einer Initiative, die gegen das Fifa-Fanfest protestiert."
 Ein schöner Protest. In Russland ist jeder Protest ein schöner Protest und eine gewaltige Demonstration gegen das System Putin, gegen die eingeschränkte Meinungsfreiheit, die "Annexion" der Krim, die versteckte militärische Einmischung in der Ukraine, die Manipulation bei den US-Präsidentschaftswahlen, die Bombardements in Syrien, den Giftmordversuch an den Skripals in London und in diesem Fall eben auch gegen die Lärmbelästigung durch das Fifa-Fanfest.

 Und nun beginnt das paradoxe oder sollte man sagen schizophrene:
"Bloß was passiert, wenn der lärmende Partymob plötzlich vor der eigenen Tür steht? Alexander Bikow hat es erlebt."
Bikow, so behauptet Bock, leidet persönlich unter der Lärmbelästigung durch das Fifa-Fanfest, dass  erwiesenermassen"...übertrieben laut, übertrieben grell, übertrieben krawallig" ist. Dazu, um es einmal haarklein auseinander zu dröseln, müsste er (vor der eigenen Tür) auf dem Campus leben und arbeiten. Der 25 Jahre alte Bikow aber, so läßt uns Bock wissen,
"....hat Simulationswissenschaft und Angewandte Mathematik studiert. Im vergangenen Jahr hat er seinen Abschluss gemacht".
Weiter unten im Text heisst es dann sogar:
"Bikow traut sich an die Presse, weil er mittlerweile in Amsterdam lebt."
Das Paradoxe oder Schizophrene ist, dass Bikow also Betroffener ist, weil das Fanfest auf dem Campus der Lomonossow-Universität  in Moskau und anscheinend leichzeitig "vor der eigenen Tür" des Herrn Bikow stattfindet, der aber in Amsterdam lebt. - Versteh einer diese Russen!

 Wie dem auch sei, Bikows gespaltene Persönlichkeit, oder vielleicht ist es auch nur die fiebernde Phantasie, des mit einem Aluhelm bewehrten Raum und Zeit überwindenden Andreas Bock vom Tagesspiegel, erweckt ein bisher im verborgenen ruhendes Helfersyndrom:
"Für Bikow war direkt klar: Er wird, auch wenn er nicht mehr eingeschrieben ist, seine ehemaligen Kommilitonen nicht im Stich lassen."
 Bikow warf alles hin, ließ Amsterdam Amsterdam sein und machte sich auf den beschwerlichen, nicht ganz billigen Weg nach Moskau um den Studenten bei ihrem Protest gegen die Lärmbelästigung zu helfen:
"Sie sammelten Unterschriften, gingen an die Presse, organisierten Demos und machten über Social Media auf ihr Anliegen aufmerksam. Wenige Wochen vor der WM formten sie vor dem Hauptgebäude eine 400 Meter lange Menschenkette."
Kennt jemand ein schöneres Beispiel für Hifsbereitschaft und Edelmut?
"Aber",
wen wunderts, schliesllich befinden wir uns in der Hauptstadt von Putins Reich der Unterdrückung der unterdrückten Meinungsfreiheit, der Menschenrechte und der skrupellosen Machtentfaltung nur eines Mannes,
"es war alles ohne Erfolg."
Schiere Verzweiflung bricht sich Bahn, spricht aus den Worten des Autors:
"Bis heute."
 Verzweiflung ja, - aber Resignation? Niemals:
"Trotzdem oder gerade deswegen ist es wichtig, diese Geschichte nicht zu vergessen, denn sie erzählt viel über die Ignoranz der Fifa, aber noch mehr darüber, wie in Russland mit Protest umgegangen wird."
Dabei, das vergißt die Welt so gern, kann Public Viewing, Achtung RTL 2 Konsumenten, umschalten, jetzt kommt ein kurzer Spot Bildungsfernsehen:
"- ein Neologismus, das im Englischen eher die öffentliche Präsentation einer Sache meint -"
so schön sein, wenn nicht ausgerrechnet der Russe seine Finger im Spiel hat. Bock präsentiert uns sein vulminantes Wissen einer oft sträflich behandelten Sparte der Geschichtswissenschaften:
"Schon während der WM 1954 versammelten sich Menschen vor Schaufenstern von Elektrofachgeschäften, in denen die Inhaber die Ausstellungsfernseher angestellt hatten. Später wechselten sie in die großen Kaufhäuser. 1986 zeigten etwa etliche Filialen von Hertie die Spiele in ihren Sportabteilungen, samt Mexiko-Dekoration."
Ist es nicht herzallerliebst, dieses Bild, wie die deutschen Herrenmenschen, just aus einem Krieg heimgekehrt, in dem es ihnen fast gelungen wäre, die halbe Welt mit deutschem Geist, deutscher Gründlichkeit und deutscher Mordlust zu beglücken, (die andere Hälfte hätten sie, Gott-sei-Dank, auch nur fast, umgebracht) und nun voll und ganz damit beschäftigt wieder wer zu sein, sich ganz friedlich die Nasen an den Schaufenstern der Radio- und Fernsehgeschäfte plattdrücken, um dann eiligst nach Hause zu laufen, der Mutti das sauer Zusammengesparte aus der Kaffetasse im Küchenbuffet zu klauen, um selbst so eine Flimmerkiste zu erstehen?

Zwischen 1954 und 1986 lässt Bock eine 32 Jahre währende Lücke klaffen, um, auf die Wandlung des Zeitgeistes hinweisend "später wechselten sie in die großen Kaufhäuser", aus den damals noch zahlreichen Kaufhauskonzernen ausgerechnet die Hertie-Warenhäuser auszuwählen. Der Konzern, der 1986 schon stark ins schlingern geraten war, hat eine Geschichte, die typisch für Deutschland war. Bereits 1933 / 1934 von den Nazis mit Hilfe, unter anderem der Deutschen Bank, arisiert, wie man damals sagte, indem man den jüdischen Inhaber Hermann Tietz unter fadenscheinigen Gründen und mit einer mickrigen Abfindung aus dem Unternehmen drängte, übernahm nach und nach der ehemalige Leiter des Textileinkaufs Georg Karg das gesamte Unternehmen.

Nachdem dann das Unternehmen 1993 für 1,65 Milliarden DM an Karstadt verkauft worden war gelang es den Karg-Erben durch diverse Tricks die anfallende Erbschaftssteuer im Millionenbereich vor dem Fiskus zu retten. Das führte im Jahr 1999 zu einem Ermittlungsverfahren der Frankfurter Steuerfahnder, das später von der Politk niedergeschlagen wurde.

 Vielleicht hat Bock, weil die Konzerngeschichte eben eine typisch deutsche war, gerade die Hertie-Kaufhäuser ausgewählt um seine Geschichte des Public Viewing, von dem die Menschen, die daran teilnahmen noch gar nicht wussten, dass es sich bei ihrem tun um Public-Viewing handelte, weiterzuschreiben. Eine Geschichte, die mit einem Finale Furioso, mit dem "Sommermärchen" 2006 so glücklich endet:
"2006 erlebte es bei der WM in Deutschland vor allem in Berlin einen riesigen Hype. Es war die größte Fifa- Fanmeile aller Zeiten."
 Saufende, "Deutschland, Deutschland" gröhlende Menschen, riesige Lautsprechertürme, die die Fensterscheiben in halb Berlin erzittern lassen, eine Stadt im Ausnahmezustand, zugedeckt mit schwarz-rot-goldenen Fandevotionalien, ein Volk in nationaler Selbstbesoffenheit - aber: Weit und breit kein Russe.

 Und so war es wohl ein schönes Fest, ohne Nebenwirkungen. Von Bock wird nur bewundernd berichtet:
"Es war die größte Fifa- Fanmeile aller Zeiten."
Ganz anders 2018:
"In Russland finden offizielle Fifa-Fanfeste in jedem WM-Ort statt. Es sind Fifa-Wunderländer mit Fifa-Produkten und Fifa-Stimmung. Treffpunkte für Anhänger, die keine Karten für die Spiele bekommen haben, die aber trotzdem laut und exzessiv mit Zehntausenden zwischen Fressständen, Amüsierbuden und riesigen Leinwänden feiern wollen."
 Der aus Amsterdam zu dem einzigen Zweck eine Protestaktion zu organisieren, die die westlichen Medien als Protest gegen Putin verkaufen können, eingeflogene Alexander Bikow weiß was er seinen Unterstützer schuldig ist, fügt noch hinzu:
"Es macht bestimmt auch Spaß",
Bock rückt Bikows Engagement ins rechte Licht:
"Alexander Bikow ist keiner, der diese Art der Feierei ablehnt. Zumindest möchte er nicht verbittert klingen",
Aber, so Bikow:
"...es ist wirklich zu viel. Die Massen belasten ja nicht nur die Menschen und die Architektur, sondern auch die Umwelt. Einige Bäume wurden gefällt und Tiere gezwungen, die Gegend zu verlassen."
In Berlin, 2006, hat man die Tiere wahrscheinlich gefragt, ob es ihnen Recht ist, wenn man ihnen  mehrfach die Ohren zudröhnt und die schwarz-rot-gold eingefärbten Lieblinge haben unisono freudig zugestimmt.

Bock geht es um Randale. Er macht nicht einmal den Versuch seinen Leserinnen und Lesern das Für und Wider der Kontrahenten zu erklären. Er reduziert auf ein Nichtargument, auf ein beleidigtes:
"Wer waren schon die paar hundert Studenten gegen die 25 000 jubelnden Menschen, die ihre Hands in the air strecken wollten?"
 Die Studenten aber, so vermutet Bock werden es nicht leicht haben in ihrem ferneren Leben:
"Viele haben sogar Sorge, dass sie keinen Job mehr in Russland bekommen, weil sie als kritische Demonstranten gebrandmarkt sind."
 Der, von wem auch immer aus Amsterdam eingeflogene und zum Anführer des Protestes erkorene Alexander Bikow fügt dann in Erfüllung seines Auftrags noch Skandalträchtiges hinzu, ohne es allerdings zu belegen:
"Einmal (…) verschwanden über Nacht drei Demonstranten, niemand wusste wo sie waren. Irgendwann tauchten sie wieder auf, sie waren verhaftet worden."
Keine Ortsangaben, keine Zeitangaben, keine Angaben über die Behörde, die die angebliche Verhaftung durchführte - ein Geschichtchen, so wie man es nicht anders erwartet.

 Was jetzt noch fehlt in Bocks Propagandabeitrag ist der direkte Verweis auf Putin. Den liefert wiederum der Protestführer Bikow:
"Andere wurden zu Wiktor Sadownitschi zitiert, dem Uni-Rektor, der als Anhänger von Präsident Wladimir Putin gilt."
 So einfach machen es sich mittlerweile die Damen und Herren von der Presse: Einem Unidirektor wird angedichtet, dass er als Anhänger von Putin gilt und das reicht um ihn mit voller Namensnennung als Schurken zu diffamieren. Da braucht es keiner Belege oder gar Beweise.

Das letzte Wort gehört dann Alexander Bikow, der seine Aufgabe zu aller Zufriedenheit erfüllt hat und sich nun wieder Richtung Amsterdam absetzt:
"Putins Russland hat sich immer schon mehr um das Prestige in der Welt und weniger um die Bedürfnisse der Menschen gekümmert. Es gibt kein neues Russland. Nichts hat sich durch die WM verändert."
Ein Fazit, dem der Journalist Andreas Bock nichts hinzuzufügen hat, wenn er, und der Verdacht besteht nicht gabz zu unrecht, diese Worte seinem Protagonisten nicht selbst in den Mund gelegt hat.

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